DAS SPIEL IST AUS - ARTHUR NEBE
19. Fortsetzung
Reinhard Heydrich, nunmehr SS-Obergruppenführer, Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS und Chef des Amtes Sicherheitspolizei, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, ging am 27. 9. 1941 nach Prag als »Stellvertreter« des »erkrankten« Reichsprotektors von Neurath. Seine bisherigen Aemter behielt er bei.
Damit begann in der innerpolitischen Entwicklung des Reiches ein Stadium, das zweifellos nicht nur für das Reichskriminalpolizeiamt hätte bedeutsam werden können. Die Ernennung war von Bormann bei Hitler ohne das Wissen und gegen den Willen Himmlers bewerkstelligt worden. Der Reichsfuhrer erfuhr davon, als die Ernennung schon dekretiert war. Was bei einem siegreichen Ausgang des Krieges Martin Bormann und der lebende Heydrich mitsammen angestellt hätten, läßt sich nur ahnen. Bormann war zum Kriegsende hin der mächtigste Mann in der NS-Hierarchie, und Heydrich war bis zu seiner Ermordung einer der skrupellosesten und kältesten Leute unserer gewiß nicht zimperlichen Zeit.
Selbst wenn man berücksichtigt, daß die eigentlichen Beweggrunde bei Menschen nur unzuverlässig erkannt werden können, so läßt sich doch mit einiger Sicherheit sagen, was Bormann mit diesem Schachzug bezweckte und was Heydrich selbst in Prag beabsichtigte.
Bormann hatte erkannt, daß Heydrich ein Verwaltungsgenie war, einer von jenen Leuten, die glauben, daß sich die Welt ohne Rücksicht auf politische Strömungen und menschliche Regungen mit einer Geheimpolizei regieren lasse.
Bormann selbst glaubte das nicht. Aber er brauchte einen Verwaltungsmann dieses Schlages, der sich politisch steuern ließ. So schanzte er ihm Prag zu.
Heydrich seinerseits wollte die Gloriole des Tscheka-Häuptlings ein wenig verblassen lassen. Prag sollte das Experiment sein. Man brauchte nicht im Blut zu waten, wenn das System des Terrors vollkommen war.
Heydrichs Terror-System konnte aber nicht vollkommen sein. Ihm stand nicht die russische Schneewüste zur Verfügung. Der Hitler-Terror krankte daran, daß Deutschland ein Volk ohne Raum war. Der Heydrich war nicht so dumm, daß er nicht gewußt hätte, daß Blut und Vergasungsterror in solcher Massierung üble Wirkungen zeitigen. Aber der Josef Stalin hatte da von jeher bessere Möglichkeiten.
Freilich, wer heute behauptet, der Heydrich habe in Prag nicht so blutig regiert, wie sein Ruf es hätte erwarten lassen, dem wird sicherlich der Name Elias entgegengerufen. Dem werden die Standgerichte entgegengehalten, vor denen tschechische Generale und Offiziere, hohe und niedrige Beamte, den Tod zudiktiert bekamen.
Das alles ist unwiderleglich. Unwiderleglich ist auch das Heydrich-Wort: »Ich habe der tschechischen Bevölkerung beizubringen, daß sie an den Realitäten ihrer Zugehörigkeit und ihres Gehorsams gegenüber dem Reich nicht vorübergehen kann.«
Trotzdem kann gesagt werden: Er war in der Tschechei besser als sein Ruf, und diese Feststellung genügt zur Erhellung seiner Beweggründe.
Heydrich begann mit einem Schauprozeß, wie es ihn bis dahin in der Aera des III. Reiches nicht gegeben hatte, wie es ihn überhaupt außerhalb der Sowjetunion nie gegeben hatte. Anklage erhob ein direkter Untergebener Heydrichs, der Prager Stapo-Leiter Dr. Geschke, dessen Kommissare Schulze und Bingel das Ermittlungsverfahren geführt hatten. Angeklagt war der tschechische Ministerpräsident Alois Elias wegen Hoch- und Landesverrats. Er gestand und bereute wie neuerdings Kardinal Mindszenty.
Am 27. 9. wurde Heydrich stellvertretender Reichsprotektor, am 28. 9. wurde Elias verhaftet, am 1. 10. zum Tode verurteilt, hingerichtet aber wurde er nicht. Hingerichtet wurde er erst ein Jahr später, beim Großreinemachen nach Heydrichs Tod am 4. 6. 1942.
Daß Elias solange am Leben blieb, hatte Nebes Kriminalpolizei schuld. Heydrich hatte mit seinem Vorgehen gegen Elias bei Hitler kein Glück. Ribbentrops Rudimente protestierten, weil außenpolitisches Porzellan zerschlagen war. Heydrich mußte also sehen, wie er dem Elias todeswürdige Delikte krimineller Art anhängen konnte. Er ließ also zusätzlich ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen Elias einleiten.
Der Staatssekretär und Chef des Deutschen Vollzugsausschusses im Protektorat, Karl Hermann Frank, der sich übrigens über die Ernennung Heydrichs rot ärgerte, rief beim Leiter der deutschen Kripo in Prag an, bei einem Mann namens Sowa.
K. H. Frank, nicht zu verwechseln mit dem Polen-Schlächter Frank, sagte etwa: »Im Prager Weinberger Krankenhaus sind einige tschechische Hauptschriftleiter von der prodeutschen Aktivistengruppe mit Vergiftungserscheinungen eingeliefert worden, der Hauptschriftleiter Laznovsky ist gestorben. Dringender Verdacht gegen Elias wegen Mordes. Sofortige Ueberführung der Kranken ins SS-Lazarett Podol, Obduktion der Leiche Laznovsky durch deutsche Sachverständige und entsprechende Ermittlungen mit allen zu Gebote stehenden Kräften.«
Heydrich ging ins Führerhauptquartier. Hitler wurde überzeugt. Ja, wenn es so stand, daß Elias auch vor feigem Giftmord nicht zurückschreckte?
Die Vollstreckung des Todesurteils gegen Elias wurde bis zur Klärung des neuen, rein kriminellen Sachverhalts (so sagte man) aufgeschoben Nach der Stapo konnte sich nun die Kripo an der Niederwerfung des tschechischen Widerstandes versuchen. Sowa segelte mit geblähter Leinwand in die Ermittlungen.
Als eine Art Vertrauensmann Nebes und des Reichskriminalpolizeiamtes saß der Kriminalrat Feddersen, alter Berliner Einbruchsdezernent, in der Prager Kripoleitstelle. Zusammen mit dem Kriminalkommissar Sieber führte er die ersten Vernehmungen der Betroffenen durch. Laznovsky war tot, Vajtauer, Cremen und Werner lagen krank, die übrigen drei hatten kaum irgendwelche Uebel verspürt.
Nur eines konnten alle aussagen: Bei einem Presseempfang Elias' im Kolowratpalais waren Wein und Brötchen gereicht worden. Danach hatte die Siebenergruppe noch ein Lokal aufgesucht, und am nächsten Tage waren vier von ihnen erkrankt.
Kripo-Leiter Sowas Ueberzeugung, daß der Tod Laznovskys und die weiteren Erkrankungen in ursächlichem Zusammenhang mit dem Elias-Empfang stehen mußten oder konnten, erhielt durch die Feddersen'schen Feststellungen einen harten Stoß. »Keine Anhaltspunkte«, hatte der kurz kommentiert.
Professor Weirich, der Prager Lehrstuhlinhaber für Gerichtsmedizin, fand auch keine in der Obduktion. Auch über die Frage, auf welche Weise Heydrich in Kenntnis des Verdachtes gegen Elias gekommen ist erfuhren die Kriminalisten nichts. Auf der Prager Burg war das Geheime Reichs-Sache.
Bei diesem Sachverhalt mußte Heydrich der Forderung der Kripo, Elias zu vernehmen, nachgeben. Sie erfolgte durch Sowa und Feddersen im Pankracer Gefängnis. Der außer Gefecht gesetzte. Ministerpräsident verwahrte sich energisch gegen die Beschuldigungen. Beweismaterial gegen ihn lag nicht vor.
Heydrich schnaubte, K. H. Frank schnaubte. Auf der direkten Leitung Prager Burg-Prinz-Albrecht-Straße wurde der gerade aus Rußland zurückgekehrte Nebe im Flugzeug nach Prag beordert. Lobbes folg mit.
Nebe, vom Rußlandeinsatz noch mitgenommen, merkte sofort, daß hier nichts zu holen war. Er verhandelte mit Heydrich. Flog kurz darauf krankheitshalber zurück. Freund Lobbes beorderte er ebenfalls zurück. Dafür schickte er Dr. Wehner, der ihm schon manche Kastanie dieser Dicke aus dem Feuer geholt hatte.
Wehner flog im gleichen Flugzeug wie Heydrich nebst Gefolge. Kurz vor der Landung ging Heydrich durch die Ju. »Alles sitzen bleiben, bis ich ausgestiegen bin. Und dann beobachtet einmal, wie respektvoll und zackig Euer Chef von den eingebildeten Militärs auf dem Flugplatz eingeholt wird.«
Wehner erbte das neue Ergebnis des Münchener Toxikologen, Dozenten Dr. Straßburger Dr. Straßburger war SS-Angehöriger und stand Heydrich nahe. Sein Gutachten besagte: Laznovsky war an Typhus und Milzbrand gestorben.
Wehner: »Bei dem von Feddersen und später von Lobbes festgestellten Verlauf, nämlich Einkauf eines kleinen Kartons fertiggemachter Brötchen in einem sehr bekannten Prager Delikatessenhaus durch Elias selbst, Transport im Wagen im Beisein des Chauffeurs, Auftischen der Brötchen durch die Bediensteten des Kolowrat-Palais, und dann ausgerechnet Milzbrand- und dazu noch Typhusbakterien: da hätte Elias entweder ein Verrückter oder ein Rindvieh sein müssen.«
Im Kolowrat-Palais rekonstruierte Wehner die Pressekonferenz: Tisch, Gläser, Teller standen wie bei »der Tat«. Er organisierte eine gleiche Pappschachtel und ließ diese den genau gleichen Weg durch die gleichen Personen fahren oder tragen, den sie am »Mordtage« genommen hatte.
Wie er die Sache auch ansah, eines war klar: Die Ermittlungen gingen nicht gegen Elias.
Mit Feddersen besprach Wehner sich vertraulich. »Meine Ueberzeugung: Mit Elias hat das ganze nichts zu tun,« sagte Feddersen.
»Ich glaube sogar, es ist überhaupt nichts,« entgegnete Wehner.
»Aber Laznovsky ist tot.«
»Natürlich, und ein paar waren krank, nur einer länger. Ein paar garnicht. Von den letzteren haben auch keine von den Fischbrötchen gegessen. Vajtauer zwei, der liegt noch.«
»Du meinst, vergiftete Konserven?«
»Verdorbene vielleicht. Wahrscheinlich sogar.«
»Und Straßburger?«
»Das Gutachten ist über die Burg gelaufen.«
Schweigen
Elias wechselte seine Umgebung. Vom Pankrac-Gefängnis ins Stapogebäude im Petschek-Palais in der Bredauer Gasse, von da ins Kripogebäude in der Washingtonowa, der nachmaligen Karl-Maria-von-Weber-Straße. Frau Elias brachte ihrem Mann Kaffee in der Thermosflasche und in Eile bereitete Leckerbissen.
Den Berliner Beamten stand das Heulen nahe. Sie verließen den Raum gegen Ehrenwort des Generals.
Dann sprach Wehner ohne Zeugen mit Straßburger. »Typhus allein ist schon eine gefährliche Sache und eine Vergiftung damit schlecht zu lokalisieren, denke ich mir. Dazu Milzbrand. Ich habe darüber nachgelesen«.
Es wurde ein Herumreden. Der Kriminalist erfuhr aber, daß die Milzbrandbakterien nicht mehr virulent gewesen seien. Das stand nicht im Gutachten. Straßburger hatte angeblich neue Kulturen zu züchten versucht. So sagte er.
Die Frage, ob Heydrich das Gutachten befohlen habe, konnte nicht gestellt werden. Aber Wehner brauchte ihre Beantwortung nicht mehr. Denn in Podol lag der einzig noch Kranke schon nicht mehr in der Isolierzelle.
In Berlin war Nebe wenig erstaunt, als er das Wehnersche Ergebnis anhörte. »Vielleicht kann Ihnen Schulze von der Stapo einen Weg zeigen, wenn Elias es schon nicht sein kann.« Kommissar Schulze von der Prager Stapo hatte sich einen Namen in der Stevens-Best-Sache gemacht, als er in seinen Vernehmungen mit dem Engländer äußerst fair umgegangen war. Wehner verstand, was Nebe sagen wollte. Es kam nur noch auf die Frage an: »Wie sag ich's meinem Kinde«.
Die sollte Wehner selbst in Prag entscheiden. So fuhr er also wieder zurück mit einem langen Schlußbericht. Darin standen die Für und Wider gegen Elias genau abgewogen. Es waren nur wenige Wider. Zum Schluß: Erkrankung und ein Todesfall durch Genuß verdorbener Nahrungsmittel wahrscheinlich. Anhaltspunkte für Vergiftung durch Dritte keine. Straßburgers Gutachten steht dem nicht entgegen, da erkannte Bakterien nicht virulent.
Heydrich war nicht in Prag. So ließ Wehner die Akten bei dem Kommissar Schulze. Und Elias überlebte Heydrich. Folgte ihm erst, als sich in den turbulenten Tagen nach Heydrichs Tod das deutsche Racheschwert über Böhmen und Mähren austobte.
Wehners Bruder aber wurde im Mai 1945 von den Tschechen umgebracht. Ein anderer Bruder war von den Kretischen Freischärlern getötet worden (siehe Serie, vorige Nummer).
Acht Monate regierte in Prag der Mann, der sich selbst von eigenen Gnaden eine Behörde geschaffen hatte, die ein. Treffpunkt aller am Zeitalter erkrankten Intellektuellen war: das Reichssicherheitshauptamt. Ueber all diesen Intellektuellen, die er gewähren ließ und deren Tun er deckte, herrschte Heydrich, und die Intelligenzbestien vom Range eines Ohlendorf mußten ihre verhältnismäßige Freiheit teuer bezahlen.
Allen saß die Angst, die sogar physische Angst vor Heydrich in den Knochen. Denn sie wußten: Dieser Mann mit dem primitiven, vereinfachenden Denkapparat war ihnen, den Ohlendorf, Schellenberg, Six überlegen an Konsequenz. Er beherbergte zwei scheinbar gegensätzliche Eigenschaften bis zur letzten Konsequenz: Er war ein Hasser aus persönlichen Ressentiments, und er war ein Nützlichkeitsfanatiker, unbelastet von jedem nichtpersönlichen Ressentiment. In beiden Eigenschaften war er ungewöhnlich groß.
Er seinerseits in seiner simplen Schubfach-Denkweise verachtete die Intelligenzbestien herzlich. War ihnen ihr kompliziertes Gehirn nicht beim Aufstieg im Wege? Diese wiederum suchten sich seinem Ausschließlichkeits-Anspruch zu entziehen, indem sie außerhalb des Amtes Fuß zu fassen suchten.
Ohlendorf behielt die Geschäftsführung des Einzelhandels-Wirtschaftsverbandes bei, Six wurde Gesandter und Beauftragter für Kultur-Politik im Auswärtigen Amt, Schellenberg, der vom Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband herkam, baute seine Verbindungen im In- und Ausland beflissen aus. Nebe, zwar keine Intelligenz-Bestie, zog sich auf seine kriminalistische Domäne zurück.
Heydrich ließ sie alle gewähren. Er antwortete auf seine Weise: Er stauchte sie wechselweise zusammen wie nasse Säcke. »Haben Sie gesehen, wie der eben wieder rausschlich?«, pflegte sich Heydrich in der Adjutantur zu brüsten.
Um seine Amtschefs fertigzumachen, um ihnen zu zeigen, an wen und daß sie sich vollends verkauft hatten, machte er sie zu Massen-Henkern. Ohlendorf exekutierte im Süden, Nebe in der Mitte, Six bekam das Kommando Moskau. Stapo-Müller aber brauchte nicht mit nach Rußland. An ihm gab es nur wenig auszusetzen, er hatte kein anderes Fachgebiet als Heydrich auch, er war keine Intelligenz-Bestie, und auch Beschimpfungen prallten an ihm ab. Er diente der Macht ohne intellektuelle Vorbehalte.
Heydrich an der Spitze dieses Haufens war eine Macht-Potenz ersten Ranges. Eifrige Stabschefs haben dem Marschall Rommel eine Führerrolle im 20.-Juli-Putsch zugewiesen, sofern ihn die alliierten Flieger nicht außer Gefecht gesetzt hätten. Auch Heydrich wurde vom Ausland her außer Gefecht gesetzt. Aber er war, im Gegensatz zu dem Soldaten Rommel, eine wirkliche Größe im Kräftespiel. Niemand weiß, wo Heydrich gestanden hätte, wenn er den 20. Juli erlebt hätte. Aber die Frage, wo er gestanden hätte, wäre beinahe so wichtig gewesen wie die Frage, ob Hitler nun tot war oder nicht.
Heydrich stammt aus einer Musikerfamilie, und zwar von beiden Elternteilen. Der Großvater mütterlicherseits, der königliche Hofrat Krantz aus Dresden, war der Begründer des Dresdener Konservatoriums. Der Vater Bruno Heydrich gründete das Konservatorium in Halle, nachdem er in seiner Jugend Kontrabassist bei Hofrat Krantz gewesen. Krantz entdeckte auch Brunos Talente als Opernsänger. Bruno wurde bei Cosima Wagner geschliffen, schrieb einige Opern und sang auch in Bayreuth Als er zu dick wurde, ging er nach Halle und gründete das Konservatorium.
Dieser Vater Bruno Heydrich war kein Jude. Aber einer seiner Musik-Konkurrenten streute, wenn man Frau Lina Heydrich glauben soll, das Gerücht aus, er sei es. Der Künstler machte sich nichts daraus. »Darob haben ihn mein Mann und mein Schwager oft gescholten. Vor allem mein Schwager Heinz, dem 1923 eine schlagende Verbindung die Aufnahme verwehrt hat.«
Reinhard Heydrichs Bruder Heinz Heydrich konnte dem Aussehen nach in der Tat als Jude durchgehen. 1944 verübte er, fünffacher Vater, Selbstmord, als er aussichtslos in einen Korruptionsskandal verwickelt war. Lina: »Es war ungeheuer schwer, Himmler den Selbstmord beizubringen.«
Heinz hat sich schon 1923 um die Feststellung des arischen Stammbaumes Verdienste erworben. Er behauptete: Vater Bruno Heydrichs Mutter, eine geborene Mautner, habe nach dem Tode ihres ersten Mannes Richard einen Maurermeister Süß aus Meißen geheiratet. Er war nur zehn Jahre älter als sein Stiefsohn Bruno. »Süß war kein Jude, aber so ist das Gerücht entstanden.«
In der Adjutantur Heydrichs dagegen wußte man, daß Heydrich drei Prozesse gegen Leute geführt hat, die seine jüdische Abstammung behaupteten. Jedesmal hat Heydrich über die Stapo Einfluß genommen.
Ein Klassenkamerad des Heydrich hatte es in der Adjutantur erzählt: des Heydrichs Großmutter hieß Sarah Süß. Die Rechnung über den Grabstein, den Heydrich ihr neu anfertigen ließ, liegt nicht mehr vor. Ein Dokumentar-Beweis ist nicht mehr zu führen. »Aber wer die Anstrengungen des Mannes gesehen hat, die jüdische Großmutter zu arisieren, der konnte keine Zweifel mehr haben.« So sein Adjutant.
Lina Heydrich würde das alles nichts machen. »Wenn schon, dann nicht Halb-, nur Vierteljude. Eine merkwürdige Wendung übrigens, wenn alle die Verbrechen an den Juden von einem Manne begangen wurden, der selbst einer war.«
Eine merkwürdige Wendung? Den Heydrich, der zwar einen nordischen Körper, aber einen schlitzäugig vermatschten Kopf hatte hat nichts so gewurmt wie seine Abstammung. Auf dem Bahnhof begrüßte er einmal seinen Hallenser Bekannten Rühle, der neben dem späteren Presse-Gesandten Dr. Schmidt stand, ohne weitere Vorrede mit: »Den Prozeß wegen meiner Abstammung habe ich gewonnen. Nun soll noch einer behaupten, ich sei Jude! Den vernichte ich!«
Kein Ressentiment steckte so tief in ihm wie das seiner Herkunft. Selbst die Offiziere, die ihn ausgestoßen hatten, haßte er nicht annähernd so wie die Leute, von denen er nicht abstammen wollte. Die Rache an den Juden hat er ins Werk gesetzt, die an den Offizieren hat er nicht mehr erlebt.
Heydrich, selbst musikalisch begabt, war angewidert von dem Künstler-Treiben im väterlichen Haus. Mit 17 machte er in Halle sein Abitur und ging zur Marine.
Als der 26jährige Oberleutnant zur See im Kieler Spätsommer des Jahres 1930 eine Paddelbootfahrt mit dem späteren Landrat von Oldenburg, Mohr, unternahm, kenterte auf gleicher Höhe ein Boot mit zwei Frauen. Mohr tat seine Schuldigkeit und rettete Fräulein Lina von Osten, eine Dame aus Burg bei Fehmarn ("Wissen Sie, wir sind ein etwas heruntergekommener Landadel.") Heydrich machte Mohr die Eroberung streitig, und es gelang ihm, sich Lina am 6. 12. 1930 zu nähern.
Es stellte sich heraus, daß Lina längst ein Auge auf den stattlichen Soldaten, Reiter und Fechter geworfen hatte. Daß sie das Boot absichtlich hatte kentern lassen, kann nicht mehr bewiesen werden als jedes andere Gerede. Immerhin konnte sie vorzüglich schwimmen. Heiligabend die Verlobung ist das Ende von Heydrichs Marine-Laufbahn.
Heydrich war nämlich kurz vorher einer Studentin der kolonialen Frauenschule Rendsburg erheblich zu nahe getreten. Deren Vater, nach einer Lesart ein Marine-Baurat und Vorgesetzter, nach einer anderen Lesart ein Direktor der IG Farben, wandte sich an Raeder. Nach Einschaltung »dieses moralinsüchtigen Christen« (Lina) gibt es nur noch zwei Möglichkeiten. Ausscheiden wegen Unwürdigkeit und Ausscheiden wegen Unfähigkeit. »Wegen Unfähigkeit«, sagt Frau Lina, »wegen Unwürdigkeit« wissen die SS-Leute aus Heydrichs Umgebung. Der entlassene Offizier hatte keine politischen Interessen.
Da vermittelte der spätere SS-Obergruppenführer Freiherr von Eberstein, dessen Mutter die Patentante Heydrichs war, seine Bekanntschaft mit Himmler.
Am 14. 6. 1931 fährt Heydrich nach München und wird von dem kranken Himmler auf dessen Hühnerfarm in Waltrudering empfangen.
»Ich brauche einen Ic-Mann. Ich gebe Ihnen 20 Minuten Zeit. Schreiben Sie in dieser Zeit einmal auf, wie Sie sich eine solche Aufgabe vorstellen.«
Heydrich merkte erst beim Schreiben, daß er dem Himmler von Eberstein als Nachrichtenmann offeriert worden war. Er war aber technischer Nachrichtenoffizier kein Abwehrmann. Trotzdem: Himmler nahm Heydrich mit Vorrang vor dem Polizeimajor Horninger. Damit hatte der Reichsheini eine gute Nase gehabt. Horninger hatte nämlich die Aufgabe, sich als Beauftragter der Polizei in der Nähe Himmlers einzunisten. Er erhängte sich im Februar 1933.
In Münchens Türkenstraße 23, IV. Etage, bei Viktoria Edrich, erfuhr der SD (Sicherheitsdienst) als »PI« (Presseinformation) seine Gründung. Mit drei weiteren Männern legte Heydrich seine erste Kartei über die führenden Männer bei Freund und Feind an. Menschen zu kategorisieren wurde sein Lebenssport. Vorläufig für 180 RM Gehalt. (Lina: »Ich hatte zwar eine gute Aussteuer, 10000 RM, aber wir führten ein elendes Leben. Für Miete allein 65 RM.")
Im März 1933 ziehen die Heydrichs in den Berliner Westen. »Wir müssen Bayern von Preußen, von Berlin aus erobern«, war die Devise Himmlers. »Zu dieser Zeit schon suchte Rudolf Diels die Bekanntschaft meines Mannes. Er war damals mit einem kleinen, schielenden, rothaarigen, aber netten Mädchen verheiratet.« Frau Lina ist nur Frau und kennt bis heute keine andere Warte, die Dinge zu sehen.
Heydrich muß schnell wieder nach München, da dort die Felle schneller als vorhergesehen schwimmen. Und in Berlin waren Hermann Göring und Rudolf Diels seine Freunde nicht. »Mein Mann wußte, daß Göring einen Haftbefehl gegen ihn hatte.« Nach der Geburt ihres ersten Sohnes zieht Frau Lina ebenfalls wieder nach München.
Im Herbst 33 residiert Heydrich, inzwischen SS-Brigadeführer, in Münchens Leopoldstraße. Der »SD« ist inzwischen auf 110 Mann angewachsen. Im Juni 1934 geht es nach Berlin zurück und auch mit Heydrichs Finanzen bergauf. Mit einer Reihe von Hypotheken ersteht er 1935 ein Haus in Berlin-Schlachtensee (der Rohbau kostete 19000 RM) und erbaut das »Heydrichhaus« in Burg-Tiefe auf Fehmarn.
Bei Nauen pachtet er das Jagdhaus »Stolphof«. Er ist ein Jäger, der einen Prachthirsch schießen kann, ohne daß ihm auch nur einen Moment der Atem schwerer geht. Lina: »Auch ich war so'ne verrückte Jägersche.«
Das Haus auf Fehmarn gehört seit Heydrichs Tod Frau Lina und den drei Kindern (geboren 34, 39, 42). Die Kieler Regierung macht ihr das Haus streitig. Formal gibt es aber keine Handhabe. Frau Heydrich als alte Feindin Himmlers ist in Gruppe IV. Der »Besondere Volksgerichtshof« in Prag hatte sie in Abwesenheit mit einer kuriosen Begründung zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Aber die Engländer, die sich sehr für Frau Heydrichs Briefwechsel mit dem Reichsheini interessierten, haben sie nicht ausgeliefert.
»Sie sind ohne meine Genehmigung ins Ausland gefahren. Ich rate Ihnen gut, seien Sie Hausfrau und Mutter und keine herumreisende politisierende Witwe«, schrieb Himmler in einem der beschlagnahmten Briefe vom Sommer 1943 an Frau Lina.
Im Sommer 1942 hatte ihr der Führer auf Vorschlag Himmlers die Sommerresidenz des Reichsprotektors, das Gut Jungfern-Breschan (PANENSKE BREZANY), in einem Zustand geschenkt, der Frau Lina den Konkurs gebracht haben würde. Das hatte die Landwirtin Lina Heydrich (1941 erwarb sie durch Praxis und Prüfung die »Bauernfähigkeit") erkannt und abgelehnt.
*) Graphologische Begutachtung des Schriftbilds (ohne Kenntnis des Schreibers):Diese den Durchschnitt weit überragende Intelligenz wirkt nach außen kalt, undurchdringlich, maskenhaft und überlegen, wie ein Raubtier, das auf dem Sprunge liegt.Schreiber beherrscht sehr schnell die Menschen seines Wirkungskreises. Sehr sensibel und einfühlungsfähig tastet er mit unheimlichem Witterungsvermögen seine Umgebung ab. Seine Ueberlegenheit verschafft er sich außerdem durch sein ungewöhnlich schnelles und selbständiges Kombinationsvermögen, durch die Klarheit und Schärfe seines Urteils und durch die Treffsicherheit im Erfassen des Wesentlichen. Schreiber wäre dank seiner kritisch-theoretischen Intelligenz, gepaart mit einem leidenschaftlichen Erkenntnisdrang, zum Wissenschaftler prädestiniert. Innerlich ein rastlos Getriebener dürfte er jedoch nicht die Konzentration des Gelehrten aufbringen. Stattdessen muß er und will er wirken. Er ist besessen vom Tatendrang. Seine glänzende Organisationsgabe kommt ihm hierbei zugute. Außerdem wird er, um seine Ziele durchzusetzen, vor kaum einem Mittel zurückschrecken. Die Neigung zur Grausamkeit wird durch eine gemütsarme Sensibilität gefördert.Ursprünglich eine leidenschaftliche Natur mit starkem Erkenntnisdrang fehlt diesem hochbegabten Menschen jedoch - um zu innerer Erfüllung zu kommen - die Phantasie. Die Vermutung liegt nahe, die Triebfeder seiner Rastlosigkeit in einem unbefriedigten Sexus zu suchen. Dieser um seine Glücksmöglichkeiten betrogene Mensch entwickelt sich zum Willensfanatiker und huldigt nur noch der Macht und zwar der Macht um ihrer selbst willen. Wahrscheinlich ist er ein Mann des Hintergrunds, denn für Popularität fehlt ihm die Schwere.Er ist kalt genug, um nicht die Verantwortung seines Machtbereichs an sich herankommen zu lassen, aber er ist nicht brutal genug, um einen großen Machtbereich selber zu tragen. In den höchsten Regionen des Machtbereichs - sofern er in diese eindringen sollte - wird er immer einen finden, den er vorschiebt. Dann wurde die Dotation nach genügender Investition wiederholt. Himmler: »Falls Frau Heydrich nicht wieder heiratet.« Die Dreißigjährige lehnte abermals ab und verwaltete Jungfern-Breschan treuhänderisch für die Protektorats-Güterverwaltung.
Im Februar 45 war das Schloß voller Flüchtlinge, Schwangerer und Kranker. Da schrieb Frau Lina an Himmler, den sie bis 1936 mit »Herr Himmler« angeredet hatte - von da an mußte sie »Reichsführer« sagen - sie habe erfahren, im »Führerhauptquartier« herrsche Stimmung wie bei den Ostgoten am Vesuv. Ob es wahr sei, daß der Führer sich wie alle Oberen Gift besorgt habe.
Himmler blieb stumm. Im März 1945 kehrte er dann in Jungfern-Breschan ein. »Wir wollen nur ein Bad nehmen und schlafen.« - »Sollen wir Frauen hier fliehen?« - »Dann nehmt aber Heu statt Stroh.« - Die Frauen treckten.
Der Haß Lina Heydrich - Himmler war sehr alt. Er geht zurück auf den Tag, als sie Frau Marga Himmler, die aus Nakel (Warthegau) stammt und einige beträchtliche Jährchen älter ist als ihr Mann, kennenlernt. »Schlüpfernummer 50, sonst war sie man dünn«, karikiert sie die »Reichsführerin«.
»Im ersten Krieg hat sie als Krankenschwester sicher verdienstvoll ihren Mann gestanden. Als ich sie zum erstenmal sah, war ich entgeistert. Und diese spießige, humorlose und von Platzangst besessene blonde Frau mit ihrem Gesichtszucken beherrschte ihren Mann bis mindestens 1936 und hatte allen Einfluß auf ihn. So kleinbürgerlich und geizig wie sie selbst war auch ihre Einrichtung in Dahlem.«
Mittwochs lud Frau Marga die höheren SS-Frauen zum Kränzchen. Aber Frau Heydrich legte ihren Gymnastik-Nachmittag mit den Frauen der höheren Beamten ihres Mannes ebenfalls auf Mittwoch. Dort haben sowohl Frau Nebe wie Frau Lobbes geturnt. Aber Frau Lisel Nebe konnte es sich eher erlauben, sich krank zu melden. Dort wurden sogar Sportabzeichen erworben
Das Ehepaar Heydrich unterhält sich manchmal über die Himmlers, obwohl der SD-Chef nicht gerne über Vorgesetzte spricht. Dann sagt Reinhard: »Himmler jongliert immer, laviert, will keine Verantwortung tragen.« Heydrich weiß, daß er das eigentliche Pulver hinter Himmler ist.
Wenn der Reichsheini von Hitler zurückkam, war er selbst oft bedrückt, weil er in seiner Feigheit manche Dinge nicht zur Sprache gebracht hatte. »Es war gerade keine Stimmung.« An solchen Tagen ließ sich Heydrich daheim über seinen Chef aus.
Marga Himmler, genannt »Uhu«, sah in Heydrich den bösen Satan ihres Mannes, den sie bei offiziellen Anlässen gern mit »Mein Kriminaler« anredete. Himmler, der Gesetze machte, nach denen sogar eheliche Untreue bei SS-Männern besonders bestraft werden sollte, ließ sich während des Krieges von seiner Dolmetscherin Häschen Pottast zwei Kinder schenken, Helge und Nanette. Seine Frau: »Du kannst machen, was du willst, aber scheiden lasse ich mich nicht.« Frau Heydrich: »Häschen Pottast war eine wirklich feine Frau, die einen guten menschlichen Einfluß auf Himmler ausübte. Die Amerikaner haben sie mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Himmler hat ihr sein Grundstück »Lyndenfeucht« bei Gmünd geschenkt, das ihr jetzt teilweise wieder zugesprochen worden ist.«
Anläßlich der Olympiade erschien Frau Wolff bei Lina, die Frau des SS-Obergruppenführers. »Fährst du zur Kieler Segelwoche? Nimm mich mit.« Und unterwegs: »Es ist besser, ich erzähle es dir gleich. Du mußt es ja doch erfahren: In diesem Augenblick ist dein Mann zu Himmler bestellt Er soll sich von dir scheiden lassen, oder ...« - »Mein Gott, warum denn? - Was habe ich denn verbrochen?« - »Du könntest dich nicht unterordnen. Und Frau Himmler weiß, daß du sie überall als alte Ziege verschreist. Und wegen deiner Sache mit dem Maler Willrich vor allem.«
Daß Lina mit dem »nordischen Experten« ein Verhältnis haben sollte, munkelte man, seit der auf Fehmarn malte, um die Insel »SS-mäßig« zu erschließen. Zur gleichen Zeit forderte Himmler tatsächlich von seinem SD-Chef die Scheidung oder Ausscheiden. »Wer seine eigene Rotte nicht führen kann, kann auch keinen Haufen führen.«
Lina Heydrich kommt ausgerechnet zum Garten-Jahrmarktsfest bei Hermann Göring nach Berlin zurück. Sie ist so empört, daß ihr nur zwei Bilder in Erinnerung bleiben: Graf Ciano auf einem Holzschaukelpferdchen und Frau Francois-Poncet mit fliegenden Röcken in einer Luftschaukel.
Als sich die Gäste zu Tisch begeben, hat man Lina sinnigerweise Himmler zum Tischherrn gegeben. »Es waren traurigkomische Stunden. Ich machte meine allertraurigste Miene und saß stocksteif. Da fragte Himmler 'Sie sind ja so still?' Darauf ich: 'Wundert Sie das?' - Dann tanzten wir. Himmler tanzte schlecht. Da sagte er: 'Ach, Frau Heydrich, es wird schon alles gut werden. - Sehen Sie, das war wieder typisch für Himmler: Theoretisch befahl er die Scheidung, und als er mich sah, hatte er keinen Mut mehr. Es wurde nie wieder von der Sache gesprochen.«
Nur zwischen den Heydrichs selbst. In bezug auf die Himmlers war man sich zwar einig, aber die Sache mit dem Maler Willrich blieb. Im Sommer 1941 hörte der Fahrer das Gespräch der beiden Heydrichs auf dem Weg vom Flugplatz auf Fehmarn zum Heydrichhaus: »Schellenberg ist ja jetzt verheiratet. Da bleibt also nur noch der Willrich.«
Die Gerüchte um ein Verhältnis Schellenberg, Amtschef VI im RSiHA, und Frau Lina hatten sich hartnäckig über den Tod Heydrichs hinaus erhalten. 1943 bezog Walter Schellenberg in einer Gruppenleitersitzung seines Amtes Stellung: »Um dahin zu kommen, wohin ich will, brauche ich ein Verhältnis mit Frau Heydrich nicht erst anzuknüpfen.«
Daß Otto Ohlendorf Amtschef wurde, verdankt er ebenfalls den ständig sich verdichtenden Gerüchten, Lina Heydrich habe ein Verhältnis mit dem SS-Oberführer Albert. Albert forderte Heydrich zum Duell, Heydrich aber nahm nicht an. Albert, Chef des Amtes III, mußte gehen.
Hausmeister auf Fehmarn wurde der Chauffeur Herbert Simon. Als er 1938 erwischt wurde, wie er auf der Insel Kohlhoff Möweneier vereinnahmte, die als sogenannte Bürgermeistereier Monopol der Gemeinde waren, sperrte ihn Heydrich acht Wochen ohne Urteil in der Prinz-Albrecht-Straße bei Wasser und Brot ein.
Frau Heydrich tauchte mit Leuten des Personals gern in der Nordsee umher, um Reinhard eifersüchtig zu machen. Wenn Heydrich dann die Grundlosigkeit seiner Eifersucht einsah, war er allen Wünschen Linas zugänglich.
Die erste Wohnung der Heydrichs in Berlin lag gleich neben der von Canaris. Beide Männer betrugen sich als Nachbarn. Vieles spricht dafür, daß dem Canaris kein anderer Mann so interessant und so unheimlich zugleich war wie Heydrich, mit dem er dienstlich einen zähen, unterirdischen Kampf durchstand.
1938 zogen die Heydrichs nach dem Grunewald. Dort war SS-Obergruppenführer Wolff ihr Nachbar, Italien-Wolff. Wolff war der einzige SS-Führer, mit dem Heydrich sich duzte. Freilich, auch die Familie des SS-Gruppenführers Streckenbach verkehrte im Haus: Six, Nebe und der Nebefreund de Crinis, Doktor der Gerichtsmedizin, kamen zu jedem Geburtstag der Frau Heydrich. Six schenkte ihr jedesmal so viel Rosen, wie sie Jahre alt war.
»Mein Mann achtete Nebe und Six sehr, vielleicht sogar vor allen Amtschefs. Nie habe ich meinen Mann über Nebe abfällig urteilen hören«, sagte Frau Lina. »Freilich hatte er zu seiner Umgebung nicht die menschlichen Beziehungen wie ich, oft überhaupt keine. Auch dazu, Wolff zu duzen, kam er nur halb freiwillig. An dem Abend sagte er zu mir: 'Es läßt sich immer noch besser 'Du Ochse' als 'Sie Ochse' sagen.«
Die Adjutantur: »Heydrich verachtete Nebe und Six, weil sie zu weich waren. Dabei litt seine Natur nicht einmal Männer, die ihm Rückgrat zeigten. Heydrich wußte, daß er noch nicht einmal mit Anstand im sportlichen Wettkampf verlieren konnte. Er konnte sich darum manchmal selber nicht leiden. Das ließ er dann wieder an anderen aus.«
Lina Heydrich war eine zupackende Frau. Fahrer Simon erzählt: 1938 kam Heydrich einmal nach Hause. Seine Frau war nicht da, die dienstbaren Geister waren bei der Wäsche. Der Adjutant haut einer Wäscherin, die über das Waschbrett gebeugt stand, kräftig auf die Rückseite: »He, wo ist die Alte?« Lachend dreht sich Frau Heydrich um.
Bei Kriegsbeginn bat Heydrich General der Flieger Lörtzer, mitfliegen zu dürfen. Am 12. 9. war sein erster Feindflug als Kanzelschütze im KG 55.
Als Himmler von diesen Flügen erfuhr, gab es Krach. Später wurde Heydrich Hauptmann und Major der Flieger. Als Hauptmann und Jagdflieger wurde er einmal über der Beresina hinter den russischen Linien abgeschossen. Es kostete Mühe, ihn wieder herauszuhauen.
Später führte er als Major von Stavanger aus in der Me 109 Aufklärungsflüge über England. Einmal baute er eine Bruchlandung und kam ins Lazarett. Da verbot ihm Himmler das Fliegen bei Strafe, ihn aus der SS zu stoßen.
Am Tage des Kriegsausbruches hinterlegte Heydrich im Panzerschrank einen Abschiedsbrief an Lina. Zur Feier der Starterlaubnis zwölf Tage später zog man mit Sekt und Weibern durch Breslaus Bars. Wieder zu Hause, im größten Hotel Breslaus, schrieb er einen zweiten Abschiedsbrief, ähnlich an Niveau dem ersten, und teilte mit, der eigentliche Abschiedsbrief liege im Panzerschrank.
Dort wurde er nach seinem Tode gefunden. Frau Heydrich gab ihn heraus, damit die Wahrheit über ihren Mann offenbar werde. Der Wortlaut des Briefes:
Berlin, den 1. 9. 1939, 01.30
»Meine geliebte Lina!
Meine geliebten Kinder!
Hoffentlich braucht mein Panzerschrank nie diesen Brief hergeben. Als Soldat des Führers jedoch und als guter Mann und Vater muß ich alles bedenken. In dieser Stunde hat Adolf Hitler, der Führer unseres größten Deutschlands, dessen Händedruck von heute abend noch in meiner Hand brennt, die große Entscheidung schon getroffen.
Morgen früh 4.45 beginnt der Vormarsch der deutschen Armeen, um 10 Uhr ist Reichstag. Ich glaube nicht, daß mir etwas zustößt. Sollte es das Schicksal doch wollen, so soll all mein Eigen Dir gehören, Lina, Du wirst es gut und gerecht für die Kinder hüten. Gerichtliche Regelungen, Versicherungen, Pensions- und Witwenrenten usw. laß bitte durch Pomme und Elmers dann regeln, falls der Busch lebt, mit durch ihn. -
Liebe Lina, ich glaube, daß, so unendlich schwer für uns die beiden letzten Wochen waren (besonders das Versinken Deines Glaubens an mich hat mich in seiner unklaren Grundlage aufs tiefste verletzt), sie doch uns die Vertiefung und Festigung unserer Zusammengehörigkeit brachten. Erziehe unsere Kinder im Glauben an den Führer und Deutschland, in der Treue zur Idee der Bewegung, zur Härte in der Einhaltung der Grundgesetze der Schutzstaffel, zur Härte gegen sich selbst, zur Güte, zur Großzügigkeit gegen die Menschen des eigenen Volkes, zur Härte gegen alle Feinde im Inland und Ausland, zur Verpflichtung den Ahnen und Enkeln gegenüber.
Liebste Lina, ich mag Fehler haben, ich habe Fehler gemacht, dienstlich, menschlich, gedanklich und in der Tat, ich habe Dich unendlich lieb und ebenso liebe ich meine Kinder. Denke bitte in Achtung und Liebe an unser gemeinsames Leben zurück, gib, wenn die Zeit geheilt, den Kindern wieder einen Vater, nur, ein Kerl muß es sein, wie ich einer sein wollte.
In unendlicher Liebe, Heil Hitler!
Euer Reinhard.«
Hier ist einer der Gründe, warum die Welt den Deutschen böser ist, als sie es den Russen und dem Josef Stalin jemals sein könnte. Ueberall ist der moderne Machtstaat schrecklich, überall ist der moderne Staat schrecklich. Aber in Deutschland konnten Halb-Menschen diese Macht ausüben. Mussolini war ein Mensch, Franco bemüht sich mit Erfolg, selbst der Josef Stalin ist vielleicht irgendwo noch ein Mensch. In Deutschland aber waren die Inhaber der reinen Macht von Hitler über Himmler über Heydrich zu Stapo-Müller Leute, deren menschliche Empfindungsfähigkeit traurig verkümmert war.
Wenn der Heydrich, ein stattlicher Kerl von bald zwei Meter Länge, ein Mädel verführen wollte, dann mußte er mit seiner Macht und seinem Reichtum prahlen. Selbst die armseligste kleine Hure wollte ihn nicht ein zweites Mal und hätte jeden anderen Kunden dem Heydrich vorgezogen, wenn sie gekonnt hätte. Der Adjutant mußte sich bei seinen Vorbesprechungen an derlei Klagen gewöhnen.
Gegen die trostlose Oede solch einer Seelenlandschaft gibt es bei einem Mann vom Ehrgeiz des Heydrich nur ein Kraut: Das Streben, die Menschen gegeneinander auszuspielen und sie zu beherrschen.
Heydrich tat das. Vor Himmler machte er einstweilen noch halt, solange er das Gefühl hatte, »daß es ganz gut ist, daß noch einer vor mir ist«. Er wußte ja, daß er die eigentliche Triebfeder Himmlers war. Wenn er täglich alle Aeußerungen anderer Prominenter festhielt und daraufhin analysierte, ob sie Himmlers Stellung stärkten oder schwächten, dann wußte er natürlich, wer Himmlers Position eigentlich besetzt hielt.
Praktisch tat er, was er wollte. Er traf schon alle Vorbereitungen, geeignete Männer aus SS und SD auf Staatskosten studieren zu lassen, um die Spitzenposten der inneren Verwaltung des Reiches nur noch mit seiner Elite zu besetzen. Er saß schon heftig am Drücker, als er nach Prag ging. Und er behielt den Drücker in der Hand. Bis zu seinem Tode.
Als das Attentat auf Heydrich in Berlin bekannt wurde, löste es im RSiHA, Heydrichs eigenem Amt, merkwürdig geringe Betriebsamkeit aus. Weder Müller noch Nebe trafen Anstalten, den Fall in eigene Regie zu nehmen, obwohl es Müllers Sache gewesen wäre, die Sachbearbeitung unter Hinzuziehung von Nebeschen Kriminalisten zu übernehmen. Dafür entsandten beide nur je einen Sachbearbeiter für die Zuständigkeiten ihrer Aemter: Die Kriminalräte Kopkow und Dr. Wehner.
Als beide am Spätnachmittag in Prag eintrafen, bot sich ihnen ein katastrophales Durcheinander: Kein Zug durfte ein-, keiner ausfahren. Ueber die Bevölkerung war mit Anbruch der Dunkelheit bei Androhung sofortigen Erschießens Ausgangssperre verhängt.
Ueber die Straßen nach Böhmen und Mähren ergossen sich die Lkw's mit Schutzpolizei- und SS-Kommandos, später liefen Sonderzüge mit Truppenkontingenten ein. Schwer bewaffnete Polizei und Wehrmachtsstreifen beherrschten das Stadtbild von Prag, Panzerwagen patrouillierten, Ueberfallkommandos lärmten.
Die öffentlichen und privaten Verkehrsmittel lagen still. Dazwischen die Lautsprecherwagen: »Wer ... wird sofort standrechtlich erschossen!« - »Es ist ab sofort bei Androhung sofortiger Erschießung verboten ...!«
»Die sind total verrückt«, sagte Kopkow. »Bei dem Durcheinander, das die hier anrichten, finden sie sich selbst nicht wieder heraus, geschweige denn die Attentäter.«
Das Petschek-Palais war ein Ameisenhaufen. SS-Männer und SS-Führer wimmelten in unvorstellbarer Zahl durcheinander, dazwischen hohe Polizei- und Wehrmachtsoffiziere. »Wir wollen zum Leiter.« - »Der hat jetzt keine Zeit.« - »Wir kommen vom RSiHA.« - »Ach, bemühen Sie sich doch einmal in den Konferenzsaal.«
Kopkow und Wehner ließen sich treiben, standen plötzlich dort. Niemand nahm Notiz von ihnen. Die Höchsten der Anwesenden, der Stapochef Dr. Geschke, der Befehlshaber der Sipo und des SD, Dr. Böhme, die Polizei- und Waffen-SS-Kommandeure, im Generalsrang die meisten, standen um die Karten auf den großen Tischen Sie warfen Regimenter und Hundertschaften hin und her, besprachen Standgerichtsbefehle, neue Verbote, Erschießungen.
»Wir könnten die Attentäter sein, niemand hinderte uns, hier teilzunehmen«, meinte Wehner. Darauf Kopkow: »Lachen Sie doch. Mehr Grund dazu werden Sie sobald nicht wieder haben.«
Nach einer Weile gingen sie auf Dr. Geschke zu: »Die Gruppenführer Müller und Nebe schicken uns. Wie weit sind Sie mit dem Attentat?« - »Meine Herren, Sie sehen doch, ich habe keine Zeit. Kommen Sie später nochmal zu mir. Jetzt müssen wir erst die angeforderten Truppen verteilen.«
Die beiden Berliner Beamten sahen sich an und gingen. Im Kellergeschoß war die Dienststelle des Kommissars Schulze, eines erstklassigen Kriminalisten. »Trinken Sie erst Kaffee bei mir, essen Sie etwas. Da oben vermögen Sie jetzt nichts. Das ist ein Tollhaus. Wenn die zu Ende führen, was sie jetzt beginnen, schießen sie die ganze Tschechei zusammen und haben zum Schluß die Attentäter nicht einmal mit getroffen.«
Wehner ging zur Kripo, nicht weit vom Petschek-Palais. - »Wir haben Alarmzustand, alle Beamten einsatzbereit. Wir müssen warten. Dr. Böhme hat verfügt, daß sich die Kripo für Sach- oder Personenfahndungen zur Verfügung hält. Bis jetzt hat man von der Kripo nichts verlangt als eben zu warten«, erklärte Kripochef Sowa. »Der Tatort?« - »Ist abgesperrt. Was im einzelnen los ist, wissen wir nicht.«
Wehner ging zu Kommissar Pannwitz, dem 'Sachbearbeiter' in Sachen Attentat. - »Wir geben uns Mühe, zu einer Personenfahndung zu gelangen«, sagte der, »aber vor lauter Besprechungen über Einsätze ist es zu kriminalistischer Arbeit bisher nicht gekommen.«
Es wurde dunkel und gefährlich, auf die Straße zu gehen. Auf Zivilisten und auf offene oder beleuchtete Fenster wurde geschossen. Die Patrouillen gingen, die Maschinenpistolen im Anschlag, auf jeder Seite der Häuser, um die gegenüberliegenden zu beobachten. Wehner und Kopkow, brauchten Bewachung, um ins Hotel zu gelangen.
Gegen 23 Uhr waren sie wieder im Petschek-Palais. Dort las Dr. Geschke Fernschreiben über die Aktionen im Land. Die ersten »auf der Flucht Erschossenen« wurden gemeldet.
»Hat das Radio schon Personenfahndungen gebracht? - Hat die Presse Meldungen, damit die Oeffentlichkeit überhaupt weiß, was sie soll? - Bis jetzt haben wir nur gehört, was sie nicht soll.« Da gab es Aufregung im Hause. Ein Mann war durch ein Fenster des dritten Stockes in den steingepflasterten Hof gesprungen. Tot. »Was hat der mit der Sache zu tun?« - »Ein Zeuge, der den Vorfall beobachtet hat.« - »Darf ich seine Aussagen sehen?« - »Die muß Pannwitz haben.«
Pannwitz hatte sie nicht. Er raufte sich die Haare. »Und unter solchen Verhältnissen soll ich die Sache bearbeiten.« Da nahmen Wehner und Kopkow inmitten des Getümmels die Sache insoweit in die Hand, daß sie sich zunächst einmal ein Bild verschaffen konnten.
Denn es gab eine Reihe von Zeugen, die den ganzen Vorfall unfreiwillig beobachtet hatten. Er spielte sich im Prager Stadtteil Troja ab, dort, wo die Straße Dresden-Prag in einer spitzen Haarnadelkurve zur Troja-Brücke hinunterführt.
Gerade in dem Augenblick, als sich zwei Straßenbahnen in der Kurve begegneten und notwendigerweise sehr langsam fuhren, gab es eine Detonation. Die Menschen in den Straßenbahnen sahen erschreckt hin. Bemerkten einen Mann, der zwischen den beiden Straßenbahnzügen hindurch in Richtung zum Lubowka-Krankenhaus floh. Sahen, wie der Pkw., der mit der Detonation zusammenhängen mußte, hart am Bürgersteig hielt, die markante Figur Heydrichs mühsam ausstieg, hinter dem Fliehenden mit einer Pistole herschoß und mitten auf der Straße zusammenbrach.
Andere, die die Blickrichtung straßenauf hatten, sahen auch dorthin einen Mann fliehen. Einer der Zeugen war ein tschechischer Kriminalbeamter. Aber er konnte den Fliehenden nicht einholen, der in hundert Meter Entfernung vom Tatort ein Fahrrad stehen hatte und in sausender Fahrt hinunter in Prags Altstadt entkam. »Warum schossen Sie nicht?« - »Ich kam vom Dienst, um nach Hause zu gehen.« - »Was hat das mit meiner Frage zu tun?« Der Beamte blickte verständnislos. Tschechische Beamte durften außer Dienst keine Waffen tragen.
Am nächsten Morgen konnten Rundfunk und Presse wenigstens die ersten Anhaltspunkte für eine Fahndung nach den unbekannten Tätern bringen. Wehner: »Das Interesse der Polizei muß auf die eigentlichen Attentäter gelenkt werden.« Kopkow stimmte zu, fügte aber hinzu: »Wenn die in diesem Tohuwabohu nicht längst über die Grenze sind.«
Zusammen mit tschechischen Kriminalbeamten rekonstruierte Wehner den immer noch abgesperrten Tatort. Die Pistolenhülsen lagen teilweise noch auf der Straße, einen anderen Teil verwahrte Pannwitz, zusammen sechs. Sechs Schüsse hatte der todwunde Heydrich also noch abgefeuert. Teile eines Sprengkörpers fanden sich nicht, dafür Splitter von der Karosserie des Autos, von Glas und Lederteilchen
Der Tathergang war klar: Heydrich, dessen gesamtes Berliner Haus durch Alarmklingeln (sogar auf der Toilette) mit den umliegenden Polizeirevieren, mit der Wache der Leibstandarte und mit der Prinz-Albrecht-Straße verbunden war, dessen Horch und Adler Diplomat vor dem Kriege mit auswechselbaren Nummernschildern, mit Pistolen vor jedem Sitz und Maschinen-Pistolen vor den Vordersitzen ausgerüstet waren, Heydrich fuhr im Protektorat entgegen den von ihm selbst herausgegebenen Sicherheitsvorschriften für den Schutz leitender Persönlichkeiten von Staat und Partei. Er hatte nur seinen Fahrer bei sich, keinen weiteren Begleiter.
Der Wagen mußte beim Durchfahren der Spitzkurve seine Fahrgeschwindigkeit stark herabmindern und wegen der beiden sich kreuzenden Straßenbahnzüge scharf rechts an den Bordstein heranfahren. Da stand der Mann, der ihm den Sprengkörper in den hinteren Teil des Wagens warf. Mit eleganter, leichter Handbewegung, denn die Entfernung betrug keine drei Meter.
Das Ganze war um so leichter, als der zweite Mann, der im Eingang der Spitzkurve stand, dem Sprengstoffwerfer die Ankunft des Heydrich-Wagens zugerufen hatte. Der Zweite hatte von einem Dritten, der weitab oberhalb der Straße stand, ein entsprechendesZeichen erhalten. Man wollte sichergehen und den Reichsprotektor, nicht seinen Wagen allein treffen. Alle drei erkannten Attentäter waren in der Innenstadt verschwunden.
Heydrich wollte an diesem Tage nach Berlin fliegen. Auf dem Flugplatz Prag-Rossin stand seine Maschine. Lina Heydrich, die in Jungfern-Breschan der Geburt ihres vierten Kindes entgegensah, hatte ihn länger als vorgesehen aufgehalten. Noch am Vorabend hatte er mit ihr im Waldstein-Palais einen Hausmusikabend besucht, auf dem ein Quartett aus Halle Musik des Vaters aufgeführt hatte. Gegen 10 Uhr 30 endlich fuhr der Gatte ab. Auf einen Sprung wollte er noch hinauf zur Burg. Für die Attentäter bedeutete das eine Stunde längeres Warten.
Daß Heydrich immer denselben Weg zur fast gleichen Zeit fuhr, hatten sie unschwer auskundschaften können. Der Attentatsort präsentierte sich wie vom Schicksal geschaffen. An jeder anderen Stelle des Weges von Jungfern-Breschan bis zur Burg hätte der Wagen eine zu schnelle Fahrt haben müssen, um einen sicheren Wurf zu geben. Die Straßenbahnzüge machten das eigentliche Attentat zum Kinderspiel.
Ausgerechnet eine Tschechin war es, die sich um den blutenden Heydrich kümmerte. Zusammen mit einigen tschechischen Männern überführte sie den gehaßten Mann ins Lubowka-Krankenhaus. Selbst eine ausgelobte hohe Belohnung für die Frau, von der Heydrich sagte, daß sie ihm das Leben gerettet habe, konnte weder sie noch einen der Männer bewegen, sich zu melden.
Professor Dr. Diek, heute Ordinarius in Klagenfurth, und Professor Dr. Hohlbaum operierten den schwer verletzten Heydrich. Der Sprengkörper hatte ein großes Stück Leder und Teile aus der Polsterung des Sitzes, auf dem der Reichsprotektor saß, in das Körperinnere getrieben. Er war nicht mehr zu retten. Nach sieben Tagen, am 4. Juni 1942, starb er.
Kopkow und Wehner fühlten sich überflüssig. Staatssekretär SS - Gruppenführer K. H. Frank nahm das Attentat zum Anlaß, die Tschechei zu säubern. Stapo, SD und SS standen in diesem Dienst. Mit der Aufklärung eines Mordanschlags hatte das nichts mehr zu tun.
Auch die Betriebsamkeit im Petschek-Palais hatte nichts mehr mit einer Aufklärung zu tun. Kommissar. Pannwitz kam nach vielen Wochen zum Ziel. Straffreiheit und hohe Belohnung versprach er dem, der den Aufenthalt der noch immer unbekannten Täter mitteilen würde. Das zog nicht. Da drohte er, auch die Familien an den Galgen zu bringen, wenn die Täter erst einmal ausfindig gemacht wären. Das half. Ein junger Mittäter wollte die Mutter retten und verständigte die Polizei.
Die Täter saßen in der Prager Bartholomäuskirche. Es waren ehemalige tschechische Soldaten, die über ihrem Vaterland abgesprungen waren. Sie waren in England abgeflogen. Ein Geistlicher versorgte sie mit Nachrichten und Nahrung.
Die Nachrichten waren so zuverlässig, daß die Männer nicht überrascht werden konnten. Als Stapo und Schupo in die Kirche eindringen wollten, fielen Bomben von der Empore über dem Altar. Die Attentäter entkamen in die Katakomben der Kirche.
Dort hatten sie auch in den vergangenen Wochen gelebt, neben den Skeletten früherer Mönche, und sich für den Fall einer Entdeckung gesichert. Mit Pulver und Gas war ihnen nicht beizukommen. Da setzten die Prager Feuerwehren die Kellergewölbe der Kirche unter Wasser. Aber die Attentäter ließen sich nicht wie Ratten ersäufen. Sie legten im letzten Augenblick selbst Hand an sich. Auf der Empore fanden sich weitere Sprengkörper. Es waren dieselben wie die später zum 20. Juli verwandten, englischer Herkunft.
Inzwischen hatte Lina Heydrich ihrem vierten Kinde das Leben geschenkt und das des Erstgeborenen durch einen Verkehrsunfall verloren. Nur die ärztliche Kunst Professor Knaust' erhielt ihr das des Werdenden. Die Rache-Tat von Lidice ging auf das Konto des Karl Hermann Frank, des Tschechen-Schlächters.
Der tote Heydrich wurde als Mensch und Nationalsozialist, als SS-Mann, Fechter, Reiter, Schwimmer und Fünfkämpfer gefeiert. Er erhielt das Verwundetenabzeichen in Gold und die höchste Stufe des Deutschen Ordens, den vor ihm nur der tote Todt erhalten hatte. Himmler nannte Heydrich einen »Charakter von seltener Reinheit«, einen »Herrn von Geburt und Haltung«.
Und: »Drüben, in der anderen Welt, wird er mit unseren alten Kameraden Weitzel, Moder, Herrmann, Mülvenstedt, Stahlecker und vielen anderen inmitten der langen Bataillone toter SS-Männer leben und ewig im Geiste in unseren Reihen kämpfen.«
Die Briefmarke mit seiner Totenmaske hatte den höchsten Zuschlag, mit dem jemals eine deutsche Sonder-Briefmarke belegt worden war. Die 60-Pfennig-Marke kostete 5 RM.
Bevor Heydrich die blauen, grausamen Augen für immer schloß, stand noch einmal Heinrich Himmler an seinem Bett. Die beiden Dioskuren hatten sich nicht mehr viel zu sagen.
Dennoch verlief diese letzte Begegnung eindrucksvoll für den Reichsheini, für Heydrich und für die Umgebung. Weist schon Heydrichs Totenmaske täuschende Züge unirdischer Vergeistigung und unendlich verderbter Schönheit auf, wie von einem Kardinal der Renaissance, so war auch der lebende Heydrich bei dieser letzten Begegnung ein Mensch. Aus seines Vaters vierter (unbekannt gebliebener) Oper sagte er einige Verse vor, die Himmler zu Herzen gingen:
»Ja, die Welt ist nur ein Leierkasten,
»die unser Herrgott selber dreht.
»Jeder muß nach dem Liede tanzen,
»das gerade auf der Walze steht.«
(Fortsetzung folgt.)
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