«Jumbo Joe», eine Lichtgestalt gegen die Krise – die Ikone Joe Thornton belebt wieder die Schweizer Eishockey-Liga

Der Kanadier Thornton ist einer der bedeutendsten Eishockey-Profis dieses Jahrhunderts. Nun wird er zum dritten Mal für den HC Davos auflaufen – und erstmals mit Schweizer Pass. Für die Bündner spielt er diesmal sogar gratis. Das Glück des HCD gründet auf einer gekitteten Beziehung.

Nicola Berger
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Zurück im HC Davos: die Legende Joe Thornton.

Zurück im HC Davos: die Legende Joe Thornton.

Gian Ehrenzeller / Keystone

Joe Thornton und der Kurort Davos: Das ist eine Amour fou. Vor 16 Jahren entdeckte der Kanadier während des NHL-Lockouts die betörende Schönheit Graubündens, er verliebte sich in den HC Davos, das Land und die Menschen, vor allem in einen: seine heutige Ehefrau Tabea.

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Thornton ist immer wieder nach Davos zurückgekehrt, in den Sommern. Mit dem langjährigen Trainer Arno Del Curto verbindet ihn eine Männerfreundschaft, eine, die sich zunächst nicht abzeichnete: 2004 hatte Del Curto in einer Verwaltungsratssitzung gesagt, es gebe nur zwei Optionen: Entweder gehe Thornton – oder er. Der Center hatte die Aufgabe in Davos zunächst nicht so ernst genommen; Del Curto wollte Thorntons laxe Einstellung nicht tolerieren und verlangte dem Star in den Trainings alles ab.

Er spielt gratis als Schweizer

Doch dem Duo gelang es, die Beziehung zu kitten; Thornton realisierte irgendwann, dass es seiner Verfassung zuträglich ist, wenn der fordernde Del Curto ihn aus der Komfortzone lockt. Die Liaison gipfelte 2004/05 in einem erstaunlichen Meistertitel. Der HCD hatte zuvor eine der schlimmsten Krisen der Klubgeschichte erlebt, der Verein hätte aufgrund von Verbindlichkeiten in der Höhe von 4,8 Millionen Franken beinahe Konkurs anmelden müssen. Der Verwaltungsrat drückte notgedrungen Lohnkürzungen durch, die nicht alle Spieler akzeptierten. Der Torhüter Lars Weibel etwa wechselte zum EV Zug. Er wurde durch ein sehr junges, kostengünstiges Talent ersetzt: den späteren NHL-Goalie Jonas Hiller.

Die Lage war so prekär, dass Del Curto vor der Verpflichtung der drei Lockout-Spieler Thornton, Rick Nash und Niklas Hagman von der frisch eingesetzten Führung gefragt wurde, was passiere, wenn das Trio abreise, sollte die NHL-Saison starten – ob man mit dem Abstieg rechnen müsse. Sogar der notorische Pessimist Del Curto soll verneint haben, und es kam gänzlich anders: In der NHL verstrickten sich Spieler und Klubbesitzer in eine so erbitterte Fehde um Geld, dass die Spielzeit geopfert werden musste. Und der HCD stürmte zum Titel. Der unerfahrene Hiller war ein wichtiges Puzzlestück der Meisterschaft, aber die überragende Figur war: Joe Thornton. Er wurde Play-off-Topskorer – und in der Saison darauf NHL-Topskorer; der Mittelstürmer befand sich in der Form seines Lebens.

Und nun hat Thornton, man hätte das nicht für möglich gehalten, den Coach Del Curto im HCD überdauert, den Trainer, den er in den letzten Jahren immer bereitwillig beraten hat, wenn Davos sich für einen in Nordamerika engagierten Ausländer interessierte. Nachdem Del Curto den Klub im November 2018 nach 22 Jahren verlassen hatte, schloss sich Thornton am Donnerstag zum dritten Mal dem HCD an. Er trainiert seit längerem mit dem Team, am Samstag im Heimspiel gegen die Rapperswil-Jona Lakers wird er debütieren, in Davos erwarten sie ein ausverkauftes Stadion – eine Attraktion vom Format Thorntons hat der Schweizer Rekordmeister seinem Publikum länger nicht mehr bieten können. Thornton belastet das Ausländerkontingent nicht, er besitzt den Schweizer Pass.

Thornton stellt seine Dienste gratis zur Verfügung, er kostet den HCD nicht einmal Logis, weil er im Dorf eine Wohnung besitzt. Thornton wird bleiben, bis in Nordamerika die Vorbereitung auf die NHL-Saison beginnt. Noch ist kein Startdatum fixiert, frühestens wird die Meisterschaft per 1. Januar gestartet. Dem Vernehmen nach steht Thornton kurz vor der Unterschrift eines Einjahresvertrages in der NHL, es wird seine letzte Saison in Übersee werden. 2019/20 war der 41-jährige Stürmer der zweitälteste Spieler der Liga – für die San José Sharks produzierte er in 70 Spielen 31 Skorerpunkte. Mit 1636 absolvierten Regular-Season-Partien hat er in der NHL-Geschichte am neuntmeisten Spiele bestritten.

Nun wird Thornton einen letzten Anlauf in Richtung Stanley-Cup-Titel nehmen, es ist das einzige Meritum, das seinem Palmarès noch immer fehlt: Thornton war Weltmeister, Olympiasieger, hat den World Cup gewonnen. Die Jagd auf die Trophäe geht weiter, und unabhängig vom Ausgang der Hatz zeichnet sich ab, dass die famose Karriere 2021/22 bei seiner alten Liebe ausklingen könnte: im HC Davos.

Thornton, Übername «Jumbo Joe», gilt heute im Spätherbst der Karriere als Gentleman, als sanfter, weitherum respektierter Riese von globaler Strahlkraft. Aber das war nicht immer so: Zu Beginn seiner Karriere teilte Thornton auf dem Eis munter aus – und schlug auch mal über die Stränge. Bei seinem ersten HCD-Gastspiel streckte er den ZSC-Goalie Ari Sulander per Faustschlag nieder. Er wurde für vier Spiele gesperrt.

Von diesem überbordenden Temperament ist nicht viel übrig geblieben, nur der Ehrgeiz ist noch der gleiche, auch jetzt, da der Bart grau wuchert. Es spricht für den erstklassig geführten HCD und auch für die National League, dass Thornton das Davoser Kollektiv ein drittes Mal aufwertet. Beide, der HCD und die Liga, haben frohe Botschaften dringend nötig, sie bewegen sich aufgrund der Corona-Pandemie auf dünnem Eis. Eine Lichtgestalt wie Thornton bietet da willkommene Ablenkung – auch wenn die Frage erlaubt sei, wie effektiv er noch ist. Das Tempo in der National League ist so hoch wie nie. Und die Schnelligkeit war noch nie Thorntons primäre Stärke. Er ist drahtig und austrainiert wie eh und je, aber es könnte sein, dass er manchmal so alt aussehen wird, wie er ist.

Es droht ein Schönheitsfehler

Für den HCD ist Thorntons Engagement so oder so ein immenser Gewinn. Der Sportchef Raeto Raffainer sagte: «Es ist eine grosse Ehre, dass er sich noch einmal für uns entschieden hat.» Der HCD stellt eines der jüngsten Teams der Liga. Einmal neben Thornton aufzulaufen, ist für manchen Jungspund die Erfüllung eines Traums. Fraglos werden die Begabten vom Erfahrungsschatz des Routiniers profitieren.

Landauf, landab würden sich unter normalen Umständen auch die Zuschauer über das Intermezzo freuen – Thornton ist die grösste Attraktion der Liga seit Auston Matthews bei den ZSC Lions im Winter 2015/16. Es ist vielleicht der einzige Schönheitsfehler an Thorntons Rückkehr: dass sie nicht nur in Davos befürchten, dass aufgrund der steigenden Corona-Infektionszahlen bald kaum noch Zuschauer in die Stadien dürfen – und die Leute nicht live in den Genuss von Thorntons Zauber kommen könnten.